Auf Augenscheinrecherche in ZerbstGibt es in der historischen Bibliothek des Francisceums in Zerbst Bücher, die NS-Raubgut sind? Dieser Frage geht Elena Kiesel nach.

Verfasst von Arlette Krickau (Volksstimme) am 22.11.2017

Elena Kiesel in der Francisceums-Bibliothek. Etwa 500 Bücher prüft sie beim Erstcheck pro Tag auf Hinweise von Vorbesitzern. (Foto: Arlette Krickau)

Elena Kiesel in der Francisceums-Bibliothek. Etwa 500 Bücher prüft sie beim Erstcheck pro Tag auf Hinweise von Vorbesitzern.
(Foto: Arlette Krickau)

Konzentrierter Blick, schwarz an den Händen steht Elena Kiesel auf der Leiter in der kleinen historischen Bibliothek des Francisceums und zieht ein Buch nach dem anderen aus den Regalen. Schlägt es kurz auf, blättert auf den ersten Seiten, schlägt es wieder zu, stellt es zurück und zieht das nächste Buch aus dem Regal. Etwa 500 Bücher schaut sie sich so pro Tag an. “Augenscheinrecherche” sagt sie.

Herkunft prüfen

Die 24-jährige Studentin der Europäischen Kulturgeschichte im Master ist für ein Projekt für Provenienzforschung nach Zerbst gekommen. Provenienzforschung befasst sich mit der Geschichte der Herkunft (Provenienz) von Kunstwerken und Kulturgütern. Das Deutsche Zentrum für Kulturverluste und der deutsche Bibliotheksverband haben sich hier für ein Projekt zusammengetan, in dem erforscht werden soll, ob in den Bibliotheken hier im Land Bücher, die NS Raubgut sind, in den Regalen stehen.

Nach gründlicher Recherche konnte Elena Kiesel die in Frage kommenden Bücher auf etwa 5000 Bücher eingrenzen. Jedes wird sie nicht einsehen, es handelt sich um einen Erstcheck. “Da werden Stichproben genommen, etwa jedes zweite Buch. Ergibt sich hier ein Verdacht, könnte dann tiefer geforscht werden”, erklärt sie.

Aber was macht die Studentin bei dem Erstcheck genau? “Ich prüfe, ob in den Büchern Hinweise auf die ursprünglichen Besitzer sind”, erklärt sie. Diese Hinweise können Exlibrisse sein, Stempel oder handschriftliche Vermerke von Namen bis Widmungen. Manchmal ist es aber auch ein weiser Spruch, den nur bestimmte Familien nutzten.

Die Studentin ist das dritte Mal in Zerbst zu Forschungszwecken und wird wohl noch weitere drei Male kommen. Vorher hat sie diesen Erstcheck schon in Magdeburg durchgeführt. “Dort gestaltete sich die Suche etwas anders. Hier hatte ich Devisenakten, in denen Bücher vermerkt waren, die ich dann im Bestand der Bibliothek suchte”, erzählt sie. Devisenakten sind Akten, die im dritten Reich für jeden Juden angelegt wurden, in denen die Besitztümer der Juden festgehalten worden. Die Devisenakten Zerbster Juden ergaben aber keine Bücherlisten, so dass die Studentin hier einen anderen Ansatz verfolgen musste.

Also wollte sie es über das Eingangsbuch versuchen. In diesem notiert jede Bibliothek, wann von wem welches Buch in die Bibliothek kam. Doch das Eingangsbuch von Mitte 1933 bis 1948 existiert nicht mehr in Zerbst. “Gründe dafür sind unklar”, sagt die junge Historikerin.

Geduld gefragt

Glücklicherweise sind die Bücher in der Francisceumsbibliothek nach dem Eingang in den Bestand in den Regalen geordnet, so dass Elena Kiesel die in Frage kommenden Bücher in den Regalen eingrenzen kann. Und nun geht es an die Augenscheinrecherche. “Andere Referenzen habe ich nicht, das ist nur mit Geduld und Spucke zu bewältigen”, sagt sie mit einem Lachen.

Drei große Sachbuchgruppen in der Bibliothek hat sie schon bewältigt: Anhaltina, Medicina und Fremdsprachen. Bisher hat sie aber noch nichts Verdächtiges gefunden. “Vor allem bei der Anhaltina ist es eher unwahrscheinlich, da die Nationalsozialisten viel Wert auf Regionalgeschichte legten und diese Bücher dann meist offiziell angekauft wurden. Außerdem gab es viele Autoren aus der Region, die ihre Werke hier hatten”, sagt sie.

Bisher gab es viele Schenkungen und Vererbungen – alles ohne nennenswerte Vermerke. Aber nicht nur Bücher, die innerhalb der NS-Zeit in die Bibliothek kamen, werden unter die Lupe genommen. “Auch Bücher, die vielleicht 1955 in den Bestand kamen, aber bereits 1877 veröffentlicht worden sind, sind interessant. Denn auch hier kann man vielleicht einen Hinweis auf einen Vorbesitzer finden”, erklärt sie. Interessant sind hier vor allem Bücher, die von Adelsfamilien kommen, die im Zuge der Bodenreform enteignet worden. “In den Beständen ist NS-Raubgut nicht unwahrscheinlich”, sagt Elena Kiesel. In Zerbst kommt da die Familie von Kalisch in Frage. Ob die Studentin hier etwas findet, wird sich noch herausstellen.

Insgesamt wird in fünf kleinen Bibliotheken in Sachsen-Anhalt nach Hinweisen auf NS-Raubgut gesucht. Der Erstcheck kommt damit bundesweit erstmals in Bibliotheken zum Einsatz, in Museen ist er schon erprobt.

Gelder bereit gestellt

Für das Erstcheck-Projekt in Sachsen-Anhalt wurden 15.000 Euro bereitgestellt. Geforscht wird in Wernigerode, Zerbst, Dessau, Sangerhausen und Magdeburg nach Büchern, die die Nazis beispielsweise Juden und Freimaurern weggenommen haben.

Werden hier Verdachtsmomente entdeckt, wird es eine Auswertung und eine Empfehlung geben, ob hier weiter geforscht werden sollte. Gäbe es eine solchen Empfehlung, kämen im Fall von Zerbst alle Bücher unter die Lupe und nicht nur jedes zweite. Doch vorher müsste sich erst die Finanzierung klären.

Warum man ausgerechnet Zerbst auswählte, kann Gabriele Hermann, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutschen Bibliothekenverbandes erklären: “Die Entscheidung, welche Bibliotheken wir ansprechen, wurde im Vorstand des getroffen. Es wurden Überlegungen angestellt, wo so etwas überhaupt sein könnte. Kriterien zu den Überlegungen gab es nicht, nur Vermutungen, die sich aus den Beständen der Bibliotheken ableiten. Bei Bibliotheken, die erst in der neueren Zeit gegründet worden, ist es eher unwahrscheinlich.”

Noch vor Weihnachten will Elena Kiesel den Erstcheck abgeschlossen haben. Dann wird man sehen, ob es Verdachtsmomente gab und ob eine weitere Forschung folgen wird.



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