Abriss der Geschichte des Francisceums Zerbst

Die Geschichte unseres Francisceums, dessen guter Ruf weit über Zerbst hinaus drang, muss als ein bedeutendes Stück anhaltischer Schulgeschichte gewürdigt werden.

Es gibt bisher zur Geschichte unserer Schule eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die sich hauptsächlich auf die Geschichte des Gymnasiums illustre und des Francisceums konzentrieren. Unbehandelt ist jedoch immer die Entstehungsgeschichte unserer Schule geblieben. Hier liegt deshalb auch der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen.

Zur Entstehung und Gründung der Schule

Das Franziskanerkloster – eine bedeutende Stätte der Reformation

1246 wurde das Franziskanerkloster zu St. Johann in Zerbst gegründet. Seine Erbauung geht zurück in die Zeit der Wiedererweckung geistlichen und kirchlichen Lebens durch die Bettelorden. In den Mauern dieses Klosters befindet sich heute die älteste weiterführende Schule Sachsen-Anhalts, die bereits 1526 gegründet wurde und sich seit 1532 ununterbrochen in unserem altehrwürdigen Kloster befindet. Die Schule hieß nach dem Schutzheiligen des Klosters, dem Heiligen Johannes, bis 1803 Johannesschule.

Das Zerbster Gymnasium verdankt seine Entstehung Dr. Martin Luther und der Reformation. Durch sein langjähriges Wirken in unserer Nachbarstadt Wittenberg nahm er großen Einfluss auf die kirchliche und gesellschaftliche Umgestaltung in unserer Stadt (im Zerbster Stadtarchiv und im Staatsarchiv, die beide bis zur Zerstörung des Schlosses im April 1945 dort untergebracht waren, lagen 474 Lutherbriefe und -handschriften).

Als erste bedeutende Stadt nach Wittenberg schloss sich Zerbst, damals die größte und geschichtlich wie wirtschaftlich bedeutendste Stadt Anhalts und “decus et ornamentum totius Anhaltinatus” (Zierde und Schmuck von ganz Anhalt) der Reformation an, die sich, wie jede Umwälzung, über Jahre dahinzog. Mit seinen vielen Kirchen, Klöstern, Kapellen und anderen geistlichen Institutionen war das “nordische Rothenburg”, wie die Stadt in liebevoller Überschwänglichkeit bezeichnet wurde, auch das geistige und theologische Zentrum Anhalts. Zerbst war die einzige Stadt im Anhaltland. die drei Klöster hatte, während es in allen übrigen Städten Anhalts nur ein einziges gab. Für die Reformationsgeschichte spielt Zerbst für Deutschland im Allgemeinen und für Anhalt im Besonderen eine bedeutende Rolle. Welcher Besucher unserer Schule aber weiß, dass in unserem Kloster zuerst in Anhalt der Weckruf der Reformation verkündet wurde, das Franziskanerkloster aber dennoch das Hauptbollwerk des Katholizismus bildete und erst mit seinem Fall der Sieg der Reformation in Anhalt entschieden war?

So hat unser Kloster ein bedeutsames Stück deutscher Reformationsgeschichte mitgeschrieben.

Die Hochburg des Katholizismus in Anhalt fällt

Unser heutiges Schulgebäude, das ehemalige Kloster der grauen Mönche, der Barfüßer oder Franziskaner, war das Zentrum katholischen Lebens in Anhalt und der Stadt Zerbst. Die Stimmung gegen die Mönche und ihr Treiben wurde immer erbitterter und ablehnender. Tetzel trieb sein Unwesen in Zerbst, so dass sich Luther schon 1517 genötigt sah, gegen den Ablasshandel Front zu machen. Die Zerbster Bürger gaben den bettelnden Franziskanern kaum mehr Almosen. Auch die geldliche Belastung durch den Bischof von Brandenburg, zu dessen Besitztum Zerbst gehörte, und durch Rom wuchs ständig, was bereits im Frühjahr 1522 zu mehreren Ausschreitungen führte. Als Luther am Sonntag Kantate (18.Mai 1522) in Zerbst predigte, ging eine Welle der Begeisterung durch unser Zerbst und machte selbst vor dem Franziskanerkloster nicht halt. Auch hier gab es eine kleine Anzahl reformationsfreundlicher Mönche, darunter vor allem Johann Luckow, ein geborener Zerbster, der schon als Lektor an der Universität mit Luther Bekanntschaft gemacht hatte und nun – bereits im Sommer 1522 – in kraftvollen Predigten in der Klosterkirche als Verfechter der evangelischen Lehre eintrat und sich bei den Bürgern der Stadt Zerbst größter Beliebtheit erfreute. Er eiferte gegen die kirchlichen Missbräuche und predigte die Vernichtung der alten Kirche. Alles drängte in die Klosterkirche, um dem Verkünder der neuen Lehre zu lauschen. Aber die Leitung im Kloster, ihm gegenüber feindselig und hasserfüllt eingestellt, veranlasst Luckow, Ende April 1523 nach Wittenberg zu fliehen, wo er bei Luther Aufnahme fand (Ostern 1527 wird Luckow dann evangelischer Pfarrer von St. Bartholomäus). Aber die Reformation hatte in Zerbst schon einen solchen Zuspruch gefunden. dass dieser Vorgang den Hass gegen die Mönche nur noch steigerte und so den weiteren Verlauf der Reformation nur noch beschleunigte.

Es verwundert nicht, dass der Rat der Stadt Zerbst Luthers Schrift von 1524 “An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen”, begeistert aufnimmt und, wie sich bald zeigt, auch umsetzt.

Doch die Reformation hatte in Zerbst nach nicht gesiegt! Während die Verhandlungen mit den Augustinermönchen und den Nonnen im Frauenkloster wegen Räumung ihrer Kloster ohne besondere Schwierigkeiten verlaufen, wird von den Franziskanern jeder gütliche Vergleich entschieden zurückgewiesen. Das Kloster bleibt festes Bollwerk der katholischen Kirche, was aber bei der breiten Masse der Bevölkerung immer größeren Widerwillen hervorruft.

Es folgt nun Schlag auf Schlag gegen die widerstrebenden Mönche. 1524 dringen die Brauknechte, die in der ehemaligen Bierstadt Zerbst eine Macht darstellten, in das Kloster ein und verbrennen hölzerne Heiligenbilder und kirchliches Gerät. Die Innungen beanspruchen ihre Kleinodien und verweigern bisherige Abgaben.

Die Zerbster Franziskaner sind das kleine Häuflein Altgläubiger, die sich hier im Kloster zusammenballen und jedem ihre Not klagen, von dem sie Hilfe erwarten können: ihrem Bischof in Brandenburg, den Fürsten Anhalts, ja selbst dem Kaiser. Der Rat der Stadt erhält zwar Drohbriefe vom Bischof, vom Erzbischof von Magdeburg, Kardinal Albrecht, der die “Einstellung aller unchristlichen Handlungen” fordert, aber an den geschaffenen Tatsachen in Zerbst ändert sich nichts. Dennoch ist der Rat unsicher, wie er in Zerbst weiter vorgehen soll. War die enge Verbindung der Zerbster mit Wittenberg schon immer dadurch gekennzeichnet, dass man sich häufig in Briefen und auch persönlich zwecks Raterteilung und Zuweisung dorthin wandte, so nahm der Rat der Stadt in der wichtigen Angelegenheit, was mit den ehemaligen Kirchengütern, den Klöstern und den verfallenen Lehenzinsen geschehen solle, nun in dieser so rechtsunsicheren Situation mit keinem anderen als mit Martin Luther persönlich Verbindung auf. Daraufhin ist dann von Luther im Mai 1525 folgende für die Entwicklung des Schulwesens in ganz Deutschland wichtige Zuschrift nach Zerbst gegangen, die den Vermerk “Informatio jurem Ecclesiastica” trägt und in der Luther als sechsten Punkt ausführt: “Gut wäre es, dass man von den verfallenden Lehenzinsen zwei ehrliche Schulen aufrichte, eine für Knaben, die andere für Mägdlein, darin man zu Nutz gemeiner Stadt feine, geschickte Leute aufziehe, die danach Land und Leute regieren können. Dazu soll die Herrschaft auch eines Teils das Klostergut wenden. Denn an der Jugend Aufziehen liegt die größte Macht.”

Dieser Bescheid durch Luther ist dann förmliche Rechtsgrundlage, und der Rat der Stadt Zerbst, der bei Luther in hohem Ansehen stand, hat sich bei all seinen folgenden Entscheidungen danach gerichtet. So nahm er Luthers Gutachten zum Anlass, zielstrebig auf die Schließung des Franziskanerklosters hinzuwirken.

Zunächst verbietet er nun den Mönchen das Abhalten von Messen und Predigten. Da sie sich nicht daran halten, nimmt er ihre Schätze und Kleinodien in Verwahrung und führt eine gründliche Inventarisierung des Besitzes im Kloster durch. Da die Mönche alle Verhandlungen ablehnen, verlangt der Rat der Stadt die Räumung des Klosters binnen vier Wochen.

Wiederum beschweren sich die Franziskaner beim Bischof. Fürst Johann in Dessau, noch katholisch gebunden, verlangt vom Rat, die Mönche in Ruhe zu lassen und schickt eine Vorladung an den Zerbster Rat zu einem Gespräch nach Roßlau. Als der Rat von dort zurückkehrt, setzt er sich an die Spitze der antikatholischen Bewegung, nimmt das Kloster 1526 in Besitz und hat ein großes Ziel erreicht. Sofort werden neue Schlösser und Schlüssel angefertigt, ein Gang der Mönche vom Kloster zur Stadtmauer wird abgerissen, die Glocke von der Kirche heruntergeholt und in das Rathaus gebracht. Mit dem Fall des Klosters war die Hochburg des Katholizismus in Anhalt und Zerbst gefallen.

Die Gründung der Schule

Luthers Vorschlag weiter ausführend, wird schon 1526 am Nikolaikirchhof ein eigenes Haus vom Rat als Knabenschule gebaut, eine weltliche evangelische Lateinschule. Dieses Datum gilt als das Geburtsjahr unserer Schule. Sie wird vom Rat eingerichtet, der auch für die Kosten aufkommt. So spielt die Stadt eine bedeutende Vorreiterrolle hinsichtlich eines neuen Schulwesens in Deutschland. Es wird immer ein Ruhmesblatt in der Geschichte unserer Stadt bleiben, dass sie als dritte deutsche Stadt Luthers Forderung zur Errichtung neuer Schulen nachkam.

Dass Luther die Entwicklung des Zerbster Schulwesens und insbesondere dieser Schule mit besonderer Teilnahme verfolgte, geht aus einer Vielzahl von Briefen hervor. Aber auch die Reformatoren Bugenhagen und vor allem Melanchthon, der besonders enge Beziehungen zu Zerbst hatte und den ersten Lehrplan der Schule entwarf, wurden vom Rat der Stadt in Schulangelegenheiten oft zu Rate gezogen, besonders auch bei der Wahl von Lehrern. Das alles war für die Entwicklung der Schule äußerst förderlich, so dass sie rasch aufblühte.

So erfolgreich die Schulentwicklung auch verlief, die Franziskaner hatten ihren Kampf noch nicht aufgegeben. 1528 wandten sie sich an Kaiser und Reich. König Ferdinand in Prag, der Stellvertreter des Kaisers, verurteilte den Rat wegen seines Eingreifens in die Rechte des Klosters. Im Frühjahr 1529 – inzwischen waren die Kräfte der Gegenreformation in Deutschland zusehends erstarkt – klagen die Franziskaner beim Reichskammergericht in Speyer. Darauf erfolgt ein kaiserlicher Erlass an den Rat der Stadt, das Kloster binnen sechs Wochen an die Mönche zurückzugeben. Aber der Rat bleibt fest und unerschrocken, reicht eine Verteidigungsschrift beim Reichskammergericht ein und schickt eine Abordnung nach Speyer.

Am 6. September ergeht in Speyer – im Geiste der alten Kirche – der Urteilsspruch, in welchem der Rat der Stadt aufgefordert wird, den Franziskanern das Kloster zurückzuerstatten und die entstandenen Schäden zu bezahlen.
Es ist eine große Stunde in der Geschichte der Stadt Zerbst, als Klaus Kramer, der Bürgermeister, den Entschluss fasst, nicht nachzugeben. “Die grawe Mönche wider einzunehmen mitnichte gewilligen. Es koste Leib oder Geltt. Die Clenoden auch nicht zurück, nich, nich, nich”, so lautet seine für die weitere Entwicklung unserer Schule so mutige Antwort. Zerbst war keinesfalls gewillt, auch nur im Geringsten zurückzuweichen. Schließlich wurde der Konflikt an die anhaltischen Fürsten überwiesen und im November 1530 zugunsten der Stadt beigelegt. Der Rat Stadt hatte sich im Kampf gegen die alte Kirche, gegen seine eigenen Landesfürsten sowie gegen Kaiser und König behauptet. Die Hochburg katholischen Lebens in Anhalt und Zerbst war endgültig zerschlagen.

Als im Dezember 1530 das neue Schulhaus abbrannte. stand nun nichts mehr im Wege. so wie es Luther vorgeschlagen hatte, in die Räume des nun leerstehenden Barfüßerklosters einzuziehen. Es wird wohl kaum eine weiterführende Schule in Deutschland geben, die darauf verweisen kann, seit 1532 ununterbrochen im selben Gebäude beheimatet zu sein.

Zerbst als Universitätsstadt

Neben dieser Schule befand sich von 1582 – 1798, also über 200 Jahre, in den Klostermauern das Gymnasium illustre, die Anhaltische Landesuniversität. Sie ist in die Reihe der kleinen Landesuniversitäten einzureihen, die im Zuge der religiösen und theologischen Auseinandersetzungen nach der Reformation entstanden sind. Allerdings ist sie die einzige Einrichtung ihrer Art auf dem Territorium des heutigen Landes Sachsen-Anhalt. Die 1526 gegründete Johannisschule verstand sich als Unterbau, als Corpus der Hochschule und unterstand dem Rektor der Universität. In der Zeit ihres Bestehens hatte die Anhaltische Landesuniversität in Zerbst 9 Rektoren (die Ölbilder hängen heute wieder in der Aula des Francisceums), deren Amtszeit zwischen 6 und 42 Jahren schwankte. 16 Fürsten (jeweils die Senioren des Hauses Anhalt) waren nacheinander die Patronatsherren der Universität.

Im Verlaufe der 216 Jahre bildete diese kleine Universität 2713 Studenten aus, davon 83 Ausländer (alle Matrikel der Hochschule befinden sich noch in unserer Francisceumsbibliothek).

Die Gründung der Universität unter dem damals Anhalt allein regierenden Fürsten Joachim Ernst verfolgte das Ziel, die anhaltischen höheren Beamten, Studenten, Lehrer, vor allem aber auch die Theologen, dem großen Einfluss der streng lutherisch geprägten Universitäten Wittenberg und Leipzig zu entziehen, da Anhalt, ohne offiziell reformiert zu werden, immer mehr zum Calvinismus überging.

Zerbst rühmte sich, der Zufluchtsort aller “Calvinisten” zu sein, und in der Tat strömte auch an die Zerbster Hochschule eine große Flüchtlingswelle von Studenten aus den reformierten Landen Deutschlands und des Auslands. Die an der Hochschule lehrenden Professoren, meist auf Grund ihres reformierten Glaubens von den lutherischen Universitäten vertrieben, verschafften der Hochschule ein großes Ansehen.

Viele Anhaltiner, die in Zerbst studierten, brachten es zu hohen Ehren und großen Erfolgen. So erreichten allein 13 Anhaltiner die Würde eines Rektors der Universität Frankfurt (Oder), früher eine der bedeutendsten Universitäten Deutschlands.

Die Wirren des 30jährigen Krieges, die ständigen Streitereien theologischer Natur, der wirtschaftliche Niedergang Zerbsts und die finanziellen Miseren führten dazu, dass die Hochschule 1798 geschlossen wurde.

Gründung des Francisceums

Bis 1793 wurde Zerbst von dem letzten der Anhalt-Zerbster Askanier, dem Fürsten Friedrich August, regiert, der das Zerbster Land schwer bedrückte.

Ein Aufatmen ging durch die Stadt, als Zerbst durch Losentscheid dem Dessauer Fürsten Leopold Friedrich Franz zufiel. “Vater Franz” leitete nun in Zerbst eine segensreiche Regierungszeit ein. Unsere Schule, die den Namen seines Gründers und Förderers trägt, hat ihm sehr viel zu verdanken, durfte sie sich doch in besonderem Maße seiner landesväterlichen Fürsorge erfreuen.

Hatte Fürst Franz bereits im Dezember 1774 in Dessau seine berühmte Musterschule, das Philanthropinum, gegründet, so baute er unmittelbar nach seinem Besuch in Zerbst mit großen finanziellen Mitteln das altehrwürdige Franziskanerkloster, das baulich nahezu verfallen war, zu einem modernen Gymnasium aus. Dabei war er auch bemüht, am Francisceum der fortschrittlichen Pädagogik der Philanthropisten zum Durchbruch zu verhelfen. Und so nahm das Schulwesen in Anhalt und Zerbst mit der Gründung des Francisceums einen bemerkenswerten Aufschwung. Der sich nun am Francisceum vollziehende Richtungsstreit zwischen Altphilologen und Philanthropisten, der äußerst heftig geführt wurde, befruchtete insgesamt gesehen die pädagogische Arbeit dieser Bildungsstätte und ließ den guten Ruf des Francisceums weit über Zerbst hinaus dringen. Die hohen Bildungsideale des humanistischen Gymnasiums bestimmten über ein Jahrhundert die Lehr- und Lernarbeit. So kann unsere Schule auf eine lange und reiche Tradition einer geistig anspruchsvollen Erziehung zurückblicken. Auch das Spezifische unserer Bildungsstädte, das, was man als besonderes Kolorit unserer Schule bezeichnen kann, sollte als aktives Erbe anhaltischer Geschichte gewahrt, gepflegt und vor allem auch gefördert werden.

In diesem Sinne fühlen wir uns verpflichtet auch heute die historische Rolle der ältesten Schule Sachsen-Anhalts als bedeutsamer Kulturträger des Landes und der Stadt wach zu halten, hat sich doch diese Schule entscheidende und bleibende Verdienste im geistigen, wissenschaftlichen, kirchlichen und kulturellen Leben Anhalts erworben.

Dr. Eberhard Schmaling